Ein Blick von außen zum Abschied
Anmerkung zur deutschen Erregungsgesellschaft
Von
der Flüchtlingskrise bis zur Erfurter Ministerpräsidentenwahl. Fünf
Jahre Deutschland – ein Land, in dem Nüchternheit eine Provokation ist.
Eine bemerkenswerte Analyse der Berliner Verhältnisse von Benedict Neff, langjähriger Korrespondent der NZZ in Berlin.
…
In Deutschland immer den gleichen Kommentar geschrieben. Man könnte ihn
als den Lasst-die-Kirche-im-Dorf-Kommentar beschreiben. Manche Leser
glauben, darin eine bewusste Strategie zu erkennen. Die Wahrheit ist,
der Kommentar entsteht fast von allein, denn die deutschen Debatten sind
oft von einer eigentümlichen Hysterie gekennzeichnet.
….
Man denke nur an all die Zeitungskommentare zur angeblichen Schande von
Thüringen. Man konnte meinen, ein Nazi habe die Macht ergriffen.
Stattdessen wurde ein FDP-Politiker bei einer demokratischen Wahl zum
Ministerpräsidenten gewählt – mit den Stimmen der AfD, so viel ist
richtig.
…
In Deutschland ist aber etwas anderes zu beobachten: Nüchternheit ist
hier eine Provokation. Der Lasst-die-Kirche-im-Dorf-Kommentar bringt
viele Menschen erst recht zum Hyperventilieren. Kurzum: je unaufgeregter
der Ton, desto aufgeregter die Reaktionen.
… Denn wer nicht selbst die Alarmglocke schellt, hat den Ernst der Lage nicht erkannt:
…
In der Gemeinde aktivistischer Journalisten gilt Gelassenheit wahlweise
als Kollaboration mit dem Feind oder Geschichtsvergessenheit.
…Dass
die deutsche Öffentlichkeit eine leicht erregbare ist und sich Euphorie
und Jammer manchmal in kurzen Intervallen abwechseln, konnte ich immer
wieder beobachten. Deutschland ist eine Nation, die sich heute für seine
Menschenfreundlichkeit feiern und schon morgen des kollektiven
Rassismus bezichtigen kann.
….
Einige Zeit später traf ich den Politologen Bassam Tibi in Göttingen
für ein Interview. Er ist in Damaskus geboren, war lange Professor in
Deutschland, lehrte aber auch in Harvard und Yale. Eigentlich hätte Tibi
zu jener Zeit der Mann der Stunde sein müssen, ein Erklärer zwischen
den Welten. Aber er spielte im deutschen Diskurs kaum eine Rolle, und
das dürfte mit seinen Meinungen zu tun gehabt haben. Eine Quintessenz
aus dem Gespräch war: Schlecht integrierbare Menschen treffen auf eine
Gesellschaft, die nicht fähig ist, Menschen zu integrieren.
…
Warum rekapituliere ich hier noch einmal die Flüchtlingskrise? Sie
prägte meine Arbeit als Korrespondent, aber sie prägt auch das Land bis
heute. Die Umwälzungen im deutschen Parteiensystem sind zum Teil eine
direkte Folge dieser Zeit. Die AfD war bis dahin eine unbedeutende
Professorenpartei, die mit dem Euro haderte. Merkel hat sie groß
gemacht.
…
Aber auch deutsche Medien haben die AfD vitalisiert, weil sie den
Asyl-Diskurs nicht in der nötigen Breite führten und weil sie etwas
machten, was Medien nie tun sollten: sich relativ eindeutig auf die
Seite der Mächtigen zu schlagen, anstatt sie kritisch zu begleiten.
…
Die AfD ist nicht stärker geworden, weil man sie in Deutschland zu
wenig bekämpft hätte. Eher hat man sie zu stark ausgegrenzt, zu einem
Zeitpunkt, als sie noch einigermaßen gemäßigt war. Er sei «ein Teil von
jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft», sagt
Mephistopheles in Goethes «Faust». Die deutsche Politik funktioniert oft
genau umgekehrt: Man will das Gute und erreicht damit exakt das
Gegenteil.
…
Dass das Vorgehen von FDP und CDU nicht besonders klug war, war
offensichtlich, aber ich wendete mich gegen die moralische Verurteilung
der Wahl und gegen die Vorstellung, dass eine Wahl von Thomas Kemmerich
weniger demokratisch sein soll als eine Wahl von Bodo Ramelow.
…
Wenn bürgerliche Parteien nicht mehr kandidieren aus Angst, von der AfD
gewählt zu werden, dann machen sie aus dieser Partei einen Riesen, und
sie verraten ihre eigenen Werte.
...
«Spiegel Online«: Die Kritik vieler Kommentatoren fällt vernichtend aus
– ein Schweizer sieht die AfD-Stimmen für Kemmerich hingegen nicht als
Makel.» … Wie kann es sein, dass in einem Land mit 80 Millionen
Einwohnern fast alle Medien nach so einem Ereignis mehr oder weniger den
gleichen Kommentar publizieren: Schande, Dammbruch, Tabubruch?
…
Es gibt in Deutschland eine große und permanente Angst, man könnte im
entscheidenden Moment nicht auf der richtigen Seite stehen. Auch diese
Angst führt zu medialen Überreaktionen und dazu, dass viele das Gleiche
schreiben.
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