Die deutsche Gründlichkeit ist eine Selbsttäuschung (WELT)
Es ist die Zeit, Fehleinschätzungen einzugestehen. Die Ministerpräsidenten lagen daneben, als sie im Oktober auf einen Lockdown light für den November setzten. Es kam ja schlimmer. Angela Merkel verschätzte sich, als sie im September um die 19.200 Corona-Neuinfektionen pro Tag für die Weihnachtszeit prognostizierte. Es kam ja schlimmer.
Und auch für das ganze Land und für das Selbstverständnis der Republik ist es jetzt die Zeit, mit einem großen Irrtum aufzuräumen. Die (außer im rot-rot-grünen Berlin) viel gerühmte deutsche Verwaltung ist Legende. Es gibt sie so nicht. Und, ja, schlimmer: Sie erweist sich in der Pandemie als Bremsklotz, als ein massiver Unsicherheitsfaktor, womöglich mancherorts sogar als Gefahrenquelle.
Gesundheitsämter, die Neuinfektionen auch nach Monaten an Sonn- und Feiertagen nicht melden, die erst nach grotesk langer Verzögerung Kontaktpersonen von Infizierten informieren und Wochen nach dem Kontakt zur Quarantäne auffordern.
Hotlines, die für Impfwillige tagelang nicht erreichbar sind, eine quälend zähe Terminvergabe, die selbst die Impfeifrigsten aufgeben lässt. Wochenlange Verzögerungen bei der Auszahlung von Wirtschaftshilfen. Und eine Bildungsverwaltung, für die Digitalisierung allenfalls „Neuland“ ist.
Vor fünf Jahren gab es schon einmal einen Moment der Selbsterkenntnis. Als Deutschland feststellte, wie einfach es die Behörden denjenigen machten, die Asyl beantragten und widerrechtlich mehrfach quer durch die Republik auch staatliche Leistungen anforderten. Auch damals war klar: Die deutsche Gründlichkeit ist eine Selbsttäuschung.
Beim damaligen Behördenversagen ging es ums Geld – und um eine Frage der staatlichen Selbstbehauptung. Heute geht es zusätzlich auch noch um physische und psychische Gesundheit, um wirtschaftliche Existenzen und um die Zukunftschancen der Kinder. Unsere Verwaltung hat hier versagt. Wir haben uns in falscher Sicherheit geglaubt.
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