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Mittwoch, 26. August 2020

Verfassungsrechtliche Maßstäbe

Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe

Der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Dietrich Murswiek von der Universität Freiburg hat für die Enquete-Kommission des Landtages Rheinland-Falz eine Expertise zu verfassungsrechtlichen Problemen der Coronabekämpfung erstellt und am 16.08.2020 vorgestellt.

Prof. Murswiek geht nur auf das Grundgesetz ein und lässt die Landesverfassungen außer Betracht.

Durch Corona-Bekämpfungsmaßnahmen tangierte Schutzgüter/Grundrechte. Alle Gebote und Verbote, die zur Eindämmung der Epidemie erlassen wurden, greifen unmittelbar in grundrechtlich geschützte Freiheiten ein. Betroffen waren insbesondere

•die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), z.B. durch Schließung von Restaurants und anderen gastronomischen Betrieben, Schließung von Theatern und anderen kulturellen Einrichtungen, Schließung von Einzelhandelsbetrieben und von sonstigen Betrieben,

•die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) durch Gottesdienstverbote1,

•die Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG), insbesondere durch Schließung von Theatern, Opern- und Konzerthäusern oder Verbot von Ausstellungen2,

•die Freiheit der Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG) durch Verbot von Präsenzlehrveranstaltungen,

•die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) und die Freizügigkeit (Art. 11 GG), z.B. durch Reiseverbote oder durch die in manchen Bundesländern angeordneten Ausgangssperren,

•die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) durch Versammlungs- bzw. Ansammlungsverbote3,

•die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) durch für Vereine geltende Zusammenkunftsverbote,

•das Recht auf Bildung (nicht ausdrücklich im Grundgesetz garantiert, aber in Art. 13 IPWSKR und Art. 14 GRCh; kann im Grundgesetz jedenfalls auf Art. 2 Abs. 1, auch i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1, gestützt werden), insbesondere durch Schließung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen oder durch das Verbot, Angebote in Volkshochschulen und öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich wahrzunehmen,4

•die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), z.B. durch das Verbot, Angebote in Volkshochschulen oder Musikschulen wahrzunehmen5, durch das Verbot von Zusammenkünften in Sport- oder Freizeiteinrichtungen6, durch das Verbot von Rei-sebusreisen7, durch alle Ge- oder Verbote des sozial Distancing, die nicht Spezialgrundrechte berühren (etwa durch Abstandsgebote, durch das Verbot, sich mit mehr als einer anderen Person in der Öffentlichkeit aufzuhalten8), durch das Gebot, eine Mund-/Nasenbedeckung zu tragen, durch Desinfektionsgebote;

•das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) durch die Schließung von Kindergärten und Kitas, die Betätigungsfreiheit der politischen Parteien (kein Grundrecht, aber verfassungs-rechtlich garantiertes Statusrecht, Art. 21 Abs. 1 GG), insbesondere durch Veranstal-tungsverbote9.

Potentiell betroffen sein kann durch Corona-Bekämpfungsmaßnahmen auch die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG), die beispielsweise durch totale soziale Isolierung tangiert sein könnte. Grundrechtseingriffe sind auch mittelbar die Freiheit einschränkende Auswirkungen staatlicher Ge- und Verbote, jedenfalls dann, wenn diese Auswirkungen mit dem Ge- oder Verbot intendiert sind, nach überwiegender Auffassung sogar dann, wenn sie vorherseh-bar waren und in Kauf genommen wurden, beispielsweise

Einschränkungen der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) z.B. von Musikern, Schauspielern, Kabarettisten, die infolge der Schließung von Theatern usw. oder infolge von Ansammlungsverboten nicht mehr auftreten konnten; von Unternehmern, die In-folge des Verbots von Messen10 ihre Produkte dort nicht präsentieren können; von Zulieferern, die infolge der Schließung von Restaurants und anderen Betrieben ihre Produkte nicht mehr absetzen können;

Einschränkungen der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), indem Künstler infolge der Schließung von Theatern usw. oder des Verbots von Ausstellungen oder der Veranstaltungs- und Versammlungsverbote die Möglichkeit verloren, vor anwesendem Publikum aufzutreten, ihre Werke zu präsentieren usw.;

Einschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) unter vielen Aspekten: Beispielsweise schränkt die Schließung öffentlicher und privater Sportan-lagen11 die individuelle Freiheit, Sport zu treiben ein; durch Schließung von Schwimmbädern, Thermen, Saunen, Badeseen oder Kinos, Freizeitparks und weiterer Angebote von Freizeitaktivitäten13 werden die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung eingeschränkt. Auch Shopping ist durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt und wird durch Schließung von Verkaufsstellen beschränkt. Entsprechendes gilt für die Freiheit, Bars, Clubs, Diskotheken, Restaurants, Cafés, Eisdielen usw. zu besuchen, deren Ausübung durch die Schließung der betreffenden Einrichtungen unmöglich gemacht wird. Ebenso die Ausübung kulturbezogener Aktivitäten, etwa Besuch von Konzerten, Theateraufführungen, Kunstausstellungen, Kinos usw. Die Freiheit der Kinder wird insbesondere durch die Schließung der Spielplätze14 eingeschränkt. Grundrechtsrelevant sind nicht nur Gebote und Verbote. Auch sogenannte „Realakte(faktische staatliche Einwirkungen ohne rechtliche Regelung) können sich beeinträchtigend auf Grundrechte auswirken und ist dann an ihrem Maßstab zu messen. In Betracht kommt insbesondere die staatliche Corona-Kommunikation. Zumindest soweit sie verhaltenslenkenden Charakter hat (also auf bestimmte Wirkungen im Verhalten der Menschen abzielt), muss sie am Maßstab der Grundrechte gemessen werden. Wird durch staatliche Stellen beispielsweise von Arztbesuchen abgeraten, um Infektionsrisiken in Arztpraxen zu vermeiden, müssen daraus resultierende Gesundheitsbeeinträchtigungen (Art. 2 Abs. 2 GG) dem Staat zugerechnet werden. Wenn eine Behörde bewusst Angsterzeugt, um Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, 15 und wenn dies bei manchen Menschen eine Angstpsychose auslöst, berührt es ebenfalls das Recht auf kör-perliche Unversehrtheit, das auch die psychische Gesundheit umfasst (Art. 2 Abs. 2 GG). Die zur Eindämmung der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen können im übrigen unerwünschte Nebenwirkungen haben und zu nicht beabsichtigten Schäden (Kollateralschäden) führen. Ob die Verursachung von Kollateralschäden in jedem Fall, in dem ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut betroffen ist, als Grundrechtsbeeinträchtigung gewertet werden kann, soll hier offenbleiben. Wichtig ist, dass Kollateralschäden jeden-falls bei der Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt wer-den müssen. In Betracht kommen beispielsweise Schäden für

Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) durch-die Zunahme häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen-Zunahme von Depression infolge sozialer Isolation -Zunahme von Suiziden, beispielsweise infolge von Arbeitslosigkeit oder Insolvenz-gesundheitliche Beeinträchtigungen infolge von Bewegungsmangel-Unterbindung der Möglichkeit, Immunität gegen Covid-19 zu erwerben-Verhinderung der Herausbildung einer Herdenimmunität oder jedenfalls einer Immunität eines großen Teils der Bevölkerung-Unterlassung von Operationen und stationären Behandlungen, weil Kranken-hausbetten für Coronapatienten reserviert wurden-Unterlassung von Operationen, stationären Behandlungen, Arztbesuchen, weil Patienten Infizierung mit Covid-19 befürchten-Gesundheitsschäden infolge langen Maskentragens

ökonomische Einbußen durch Verlust oder Verminderung von Erwerbsmöglichkeiten(Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1-Einnahmenausfälle der betroffenen Unternehmer und Freiberufler-Lohn- und Gehaltskürzungen bei Kurzarbeit-Arbeitslosigkeit Einbußen von Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder (Art. 2 Abs. 1 GG)

Einbußen an Lebensfreude durch Beschränkung von Entfaltungs- und Betätigungs-möglichkeiten, vor allem auch durch soziale Isolierung insbesondere alter Menschen in Alters- oder Pflegeheimen, die keine Verwandtenbesuche empfangen durften (Art. 2 Abs. 1 GG

Die Aufzählung der möglichen Grundrechtsbeeinträchtigungen und Kollateralschäden ist nicht abschließend. Nicht nur staatliche Handlungen, sondern auch Unterlassungen können grundrechtlich relevant sein. Dies ist dann der Fall, wenn eine grundrechtlich begründete Handlungs-pflicht besteht (grundrechtliche Schutzpflicht). Der Staat verstößt gegen das betreffende Grundrecht, wenn sich aus diesem eine Schutzpflicht ergibt und der Staat entgegen dieser Handlungspflicht untätig bleibt oder nur unzureichend tätig wird. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kommt die sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebende Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit in Betracht. Allerdings schützen die grundrechtlichen Schutz-pflichten gegen Eingriffe Dritter (im Unterschied zu staatlichen Eingriffen), also gegen durch Menschen verursachte Schutzgutverletzungen. Eine Pflicht zum Schutz gegen Naturkatastrophen oder Epidemien ergibt sich nicht unmittelbar aus den Freiheitsrechten, hier jedoch meines Erachtens aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht könnte etwa verletzt sein, wenn der Staat nicht recht-zeitig gehandelt hat und durch frühzeitige Maßnahmen eine Verbreitung der Epidemie hätte verhindern können. Als weiterer Maßstab zur Beurteilung von Corona-Bekämpfungsmaßnahmen kommt der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Betracht. Nach dieser Vorschrift bedürfen Ungleichbehandlungen der Rechtfertigung durch einen sachlichen Grund. Die Rechtsprechung entnimmt ihr darüber hinaus ein allgemeines Willkürverbot

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